Patrizia Trolese Kolumne „Wer arbeitet denn jetzt zu wenig?"

Ein Plädoyer für weniger Ideologie bei der Bewältigung des Fachkräftemangels
„Wer arbeitet denn jetzt zu wenig?" wollte die Moderatorin Caren Miosga in Anbetracht des Fachkräftemangels vom CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wissen. „Die Rentner zum Beispiel", entgegnete der. Darum wolle die Bundesregierung eine „Aktivrente" einführen und allen arbeitenden Rentnern und Rentnerinnen die ersten 2.000 Euro im Monat steuerfrei stellen. Aber „es muss niemand arbeiten", betonte Linnemann.
Laut der Wirtschaftsweisen Ulrike Malmendier ist der Fachkräftemangel die größte Bremse des deutschen Wirtschaftswachstums. Bundeskanzler Friedrich Merz ist angetreten, um das Problem zu lösen. Experten und Expertinnen sind sich weitgehend einig: Die Aktivrente ist eine der geeignetsten Maßnahmen, um den demographischen Wandel zu bewältigen - neben Migration und der Ausweitung von Möglichkeiten der Kinderbetreuung, um Frauen in Vollzeit zu bringen.
Zwangsarbeit für Rentner und Rentnerinnen
Dennoch gerieten soziale Netzwerker links der CDU in Rage in Anbetracht imaginierter Zwangsarbeit für Rentner und Rentnerinnen. Weltanschauungen und Menschenbilder können die Bildung von Realitätsmodellen bei der Bewältigung komplexer Probleme beeinträchtigen.
Linnemanns eigenes Menschenbild, das auf Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und Solidarität setzt, korrespondiert mit der Aktivrente. Bürgergeld hingegen ist für Linnemann eine „Chiffre für Ungerechtigkeit". Seine Solidarität gilt den „Fleißigen". Dabei übersieht er, dass häufig „fehlende Qualifikation" die Vermittlung arbeitsfähiger Bürgergeldempfangender hemmt und Jobangebote für „Ungelernte" deutlich gesunken sind.
Es fehlen Fachkräfte. Dennoch pocht Linnemann auf Vermittlungsvorrang. Verfolgt man seine Tiraden zu diesem Thema in den Medien, scheint er den komplex bedingten Erhalt von Bürgergeld auf eine einzige Ursache zu reduzieren: auf „Faulheit", die es mit Sanktionen niederzuringen gilt, die „wirklich an die Substanz" gehen. Damit bekämpft er das Symptom „Arbeitslosigkeit" statt die Ursache mit Qualifizierung und behindert eine weitere Lösung für den Fachkräftemangel.
Kognitive Verzerrungen
Noch gravierender beeinträchtigen „kognitive Verzerrungen" die Realisierung notwendiger Migration. „Wir brauchen dringend eine Willkommenskultur. Wenn Intel eine Fabrik in Magdeburg baut und dafür auch ausländische Fachkräfte gewinnen will, müssen die sich dort willkommen fühlen", drängte die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer bereits 2023.
Dennoch möchten Merz und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aussetzen und die „Turbo-Einbürgerung" beenden. Der Gesetzentwurf betrifft vor allem Arbeitskräfte, die in Deutschland fehlen, in der Pflege, im Bauwesen und in der Landwirtschaft. Er birgt das Risiko, Integration zu behindern und zum Fachkräftemangel beizutragen.
Auch die Zurückweisungen an den Grenzen haben das Potential, zum demographischen Problem beizutragen. Denn Ingenieure und Ingenieurinnen aus Indien, Pflegende aus den Philippinen oder Programmierende aus Brasilien meiden Deutschland seit langem, stellte kürzlich das Beiratsmitglied des Bundeswirtschaftsministeriums, Marcel Fratzscher, klar.
Signale des Nicht-Willkommenseins
Sie nehmen die politischen Signale des Nicht-Willkommenseins durchaus wahr und haben Alternativen. Geradezu absurd muten die Ausweisungen gut integrierter Ärzte und Ärztinnen, IT-Spezialisierter und Azubis an. Statt die 3,2 Millionen Schutzsuchenden, die bereits in Deutschland leben, besser in Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu integrieren, will die Regierung die Herkunftsländer künftig per „Dekret" als unbedenklich einstufen, um Abschiebungen zu erleichtern. In Summe überbetont die nationale Idee beim Ausbalancieren der gegenläufigen Ziele die „Migrationswende" und vernachlässigt den Fachkräftemangel.
Ende Mai klagte Malmendier: „Also, das treibt mich echt in den Wahnsinn, denn das ist wirklich ein völlig offensichtliches Problem. Und ein Problem, das man vor zehn, vor 20, ich würde sagen: vor 30 Jahren ziemlich gut vorhersagen konnte." Und: „Jeden Tag wird das Problem ein bisschen schlimmer."
Christian Lindner hat mit seinem Glauben an die Schuldenbremse notwendige Investitionen in Kinderbetreuung behindert. Die Bundesfamilienministerin Karin Prien hat nun klargestellt, dass der Bund in den kommenden Jahren Milliarden in den Kita-Ausbau und die Ganztagsbetreuung an Schulen investieren werde, um Frauen in Vollzeit zu bringen.
Zwei Schritte vorwärts
Die „Aktivierung" von Frauen und die „Aktivrente" sind zwei Schritte vorwärts. Die „Deaktivierung" von Migrantinnen und Migranten ist eine Rolle rückwärts. Insgesamt ist das immer noch zu wenig, um den Fachkräftemangel zu bewältigen.
Die Überbetonung der „Asylwende" und die Wiedereinführung des Vermittlungsvorrangs sind wirtschaftliche Fehler. Mehr noch: Die Zurückweisungen an Grenzen und 100-Prozent-Sanktionen sind ethisch fragwürdig und schrecken selbst vor Rechtsbruch nicht zurück.
„Mangelnde Selbstreflexion" ist ein weiterer typischer Fehler beim Lösen komplexer Probleme.
Merz, Dobrindt und Linnemann sollten ihre Ideologien auf Basis von Ethik und Recht, Fakten und Expertise dringend überdenken.
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