Personalthema (Ausgabe 21/23) Neurodiversität kann auch Stärke am Arbeitsplatz sein

Anlässlich des Deutschen Diversity-Tags am vergangenen Mittwoch erreichte uns ein lesenswerter Kommentar von Gabriele Stahl, Partnerin bei Odgers Berndtson. Ihre Beobachtung: Menschen mit besonderen Fähigkeiten wie Autistinnen und Autisten können Teams stärken, Unternehmenskulturen lassen echte Diversität allerdings oftmals noch nicht zu. Ein Plädoyer für mehr Offenheit und Flexibilität im Recruiting.

Klimaaktivistin Greta Thunberg (Bild: picture alliance / NTB | Alf Simensen)

Greta Thunberg wurde mit dem Asperger-Syndrom diagnostiziert. Die Klimaaktivistin ist eine der bekanntesten Personen mit Autismus. (Bild: picture alliance / NTB | Alf Simensen)

Eigentlich ist es ein einfaches Konzept: Alle Menschen sollen ihr individuelles Potenzial entfalten können – unabhängig von Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung oder Herkunft. Nichts anderes meint Diversität in der Gesellschaft und der Arbeitswelt. Mehr noch: Je diverser die Belegschaft eines Unternehmens, desto breiter das Wissen, die Sichtweisen und Hintergründe, die in ein Produkt oder eine Dienstleistung einfließen. Und damit entsteht am Ende immer ein Win-Win-Win – für die Arbeitnehmenden, die Unternehmen und die Kundinnen und Kunden. 

Doch während Inklusion in vielen Bereichen schon sehr gut funktioniert, sind die Hemmungen in anderen Bereichen groß. Bestes Beispiel: Neurodiversität, die immer noch eher als Schwäche denn als Stärke wahrgenommen wird. So liegt die Arbeitslosenquote der in Deutschland lebenden Menschen mit Autismus bei über 40 Prozent (Quelle: Diversicon). Hier wird eine enorme Chance verschenkt, denn der Beitrag, den Menschen mit Autismus am Arbeitsplatz leisten können, ist immens.

Autistinnen und Autisten haben oft außergewöhnliche Fähigkeiten, sie können extrem gründlich recherchieren und sich ganz und gar einem Thema widmen.

Prominentes Beispiel ist sicherlich Greta Thunberg, und auch Albert Einstein könnte wohl ein Autist gewesen sein.

Stärken erkennen, Potenziale nutzen

Zu den besonderen Fähigkeiten von Autisten zählen beispielsweise eine klare und strukturierte Kommunikation, ein bemerkenswertes Gedächtnis, aber auch exekutive Funktionen, Logik oder eine starke Vorliebe für Strukturen und Routinen. Damit sind sie exzellente Problemlöser, bringen neue Denkansätze in eine Gruppe oder ein Projekt und sorgen mit einer teils schonungslosen Ehrlichkeit für ein zielführendes Ergebnis. Hier wird bereits deutlich, dass eben diese Eigenschaften in vielen Bereichen eindeutige Stärken sind – beispielsweise in der IT, der Forensik, in der Datenanalyse oder der Entwicklung. 

Personalabteilungen sollten Neurodiversität auch deshalb in ihrer Recruiting-Strategie verankern, weil Menschen mit Autismus beispielsweise oft eine hohe intrinsische Motivation haben, Aufgaben zu erledigen, die ihren Interessen entsprechen. Im Team können sie neue Perspektiven einbringen und können durchaus lernen, ihre Schwächen im sozialen Umgang auszugleichen.

Insgesamt können neurodivergente Teams deutlich effektiver arbeiten. Sie kennzeichnen sich durch eine höhere kollektive Intelligenz und einen besseren Umgang mit Herausforderungen.

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Recruiting-Strategie überdenken

Doch obwohl die oben genannten Fähigkeiten zum Teil händeringend am Arbeitsmarkt gebraucht und geschätzt werden, zeigt unsere Inclusion and Diversity Studie aus dem Jahr 2021, dass über 60 Prozent aller Führungskräfte neurodivergente Menschen mit Vorurteilen konfrontiert sehen. Keine andere diverse Gruppe hat einen derart schlechten Wert erzielt. 

Das Potenzial von Menschen mit Autismus wird vermutlich auch deshalb übersehen, weil sie sich in ihrer Kommunikation und in ihrem Verhalten von der Mehrheit der Menschen unterscheiden können. Menschen mit Autismus fällt es beispielsweise schwerer, in einem Bewerbungsverfahren genau die Stärken herauszuarbeiten, die sie im Job selbst auszeichnen. Aber auch ihr stärkeres Stresserleben, das mit einem vermehrten Rückzugsbedarf einhergeht, wird unter Umständen von den Firmen als Hürde wahrgenommen.

Echte Inklusion mit Blick auf Neurodiversität bedarf also in erster Linie Aufklärung sowie eigene Anpassung von Verhaltensweisen und Maßstäben.

Zu den wenig aufwendigen Maßnahmen zählt zum Beispiel, bei einem Vorstellungsgespräch Fragen und Format dahingehend anzupassen, dass die Ausgangsbedingungen auch für neurodivergente Menschen funktionieren. Anstatt also offene Fragen zu stellen, können systemische Fragen helfen, das Potenzial des Gegenübers einzuschätzen. Auch ein Gespräch auf Sachebene ist für Autistinnen und Autisten oftmals deutlich einfacher zu führen.

Zudem kann es eine Überlegung wert sein, autistischen Menschen anstelle eines Vorstellungsgesprächs mit einem Probearbeitstag die Chance zu geben, sich und ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Unternehmenskultur weiterentwickeln

Und wer das Potenzial einmal erkannt hat, sollte als nächsten Schritt Arbeitsplätze so gestalten, dass Menschen mit Autismus ihre Stärken voll entfalten können. Die Arbeit im Großraumbüro wird für sie zum Beispiel weniger geeignet sein. Natürlich sind auch sie nicht alle gleich. Deshalb sind vor allem der Austausch und ein offenes Gesprächsklima wichtig. 

Für eine Öffnung zu Diversität braucht es klare Zielvorgaben, die vielerorts noch fehlen. Laut unserer Studie haben beispielsweise nur 17 Prozent der befragten Unternehmen überhaupt eine Zielsetzung oder Strategie für mehr Diversität formuliert. Das gilt es dringend nachzuholen.

Im nächsten Schritt sollte es dann darum gehen, mit gezielten Trainings und positiven Beispielen die unbewusste Voreingenommenheit anzugehen.

Das heißt Reflexion und sich über Vorurteile und Stereotype bewusstwerden – gerade auf Führungsebene, die eine Vorbildfunktion in das Unternehmen hinein hat.

Wichtig ist außerdem eine auf Vielfalt ausgerichtete Personalsuche und der flexible Umgang mit Kandidatinnen und Kandidaten. Hier kann unter Umständen eine professionelle Unterstützung und Begleitung durch eine Personalberatung sinnvoll und zielführend sein. In jedem Fall ist der Deutsche Diversity Tag ein guter Anlass, die ersten Schritte in die Wege zu leiten.

 

Über die Person

Gabriele Stahl ist seit 1990 bei Odgers Berndtson tätig. Als Partnerin und Leiterin der Industry Consumer Products & Services in Deutschland berät sie internationale und nationale Markenunternehmen in den Food- und Nonfood-Segmenten sowie Handelskonzerne und Multichannel-Unternehmen. Sie berät ihre Klienten bei der Besetzung von Top-Positionen in den Funktionen Marketing, Vertrieb, Human Resources und in den kaufmännischen Leitungsfunktionen.

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